Beziehung im Fernunterricht
Oktober 2020, @grundschulmann
Ein Erfahrungsbericht aus der 2. Klasse einer Grundschule während dem bundesweiten Corona-Lockdown im Schuljahr 2019/2020.
(Grund-)Schule und Beziehungen
Lehrpersonen, Eltern und Schülerinnen und Schüler machten während des Corona-Lockdowns die Erfahrung, ob und wie Schule ohne direkte Beziehung, ohne persönlichen Kontakt funktionieren kann. Dass etwas fehlt, wenn es nur noch um das Abarbeiten vorgegebener Aufgaben geht, dürfte dabei vielen bewusst geworden sein.
Tom Mittelbach zählt drei Dinge auf, auf die es beim Aufbau von Beziehungen ankommt:[1]
- Kongruenz, d.h. die Lehrperson wird als "echt" erlebt.
- Akzeptanz, d.h. Schülerinnen und Schüler fühlen sich akzeptiert.
- Empatie, d.h. die Lehrperson kann sich in die Schülerinnen und Schüler einfühlen.
Folgende Beziehungsebenen machen Schule für mich aus:
- Lehrperson - Schülerinnen und Schüler: Die wichtigste der 3 Ebenen und unter anderem ausschlaggebend für den Lernerfolg (siehe unten). Die Beziehungsebene spielt nach meinem Gefühl in der Grundschule teilweise eine größere Rolle als in anderen Schularten. Das wird mir spätestens immer dann bewusst, wenn die neuen Erstklässler und Erstklässlerinnen in die Schule kommen.
- Lehrperson - Eltern: Auch diese Ebene darf in der Grundschule nicht unterschätzt werden, vor allem in Bezug auf Distanzunterricht. Je jünger die Schülerinnen und Schüler, desto mehr Unterstützung benötigen sie durch ihre Eltern.
- Lehrperson - Lehrperson: Für das eigene Wohlbefinden an der Schule ausschlaggeben, aber in Bezug auf den Fernunterricht einer 2. Klasse zunächst zu vernachlässigen.
Dass eine gut funktionierende Lehrer-Schüler-Beziehungen positive Auswirkungen auf die Lernleistung hat, zeigen auch die Ergebnisse der Hattie-Studie. Als Effektstärke wird d=0,52 angegeben.[2] Ab einer Effektstärke von d=0,4 wird von "gewünschten Effekten" gesprochen, die die Lernleistung derart verbessern, "dass wir in der realen Welt unterschiede beobachten können."[3]
Beziehungsarbeit während des Corona-Lockdowns
Im Folgenden möchte ich die Elemente meines Fernunterrichts in einer 2. Klasse in Bezug auf die Beziehungsarbeit vorstellen. Über allem stand immer und jederzeit, dass die Kinder (und deren Eltern) emotional gut durch die Zeit der Schulschließungen kommen. Elementarer Bestandteil war deshalb stets das Pflegen der Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern genauso wie zu den Eltern. ("Die Beziehungsarbeit ist wichtiger als die Prozentrechnung."[4] )
Verständnis
Es gab Kinder, die mit 2 Erwachsenen im Homeoffice deutlich schneller und effektiver lernten, individueller gefördert wurden und größere Fortschritte machten, als in der Schule. Aber natürlich gab es auch Gegenteiliges: Familien, die durch den Lockdown oder daraus resultierende Tragödien völlig aus der Bahn geworfen wurden oder Kinder, die aufgrund der prekären häuslichen Verhältnisse kaum zu erreichen waren und keinen Lernfortschritt machten. Es war für mich wichtig, die Eltern wissen zu lassen, dass ich Verständnis für die unterschiedlichen Situationen zuhause habe und so gut wie möglich unterstützen wollte.
Lob und Wertschätzung
Bei Rückgabe von Arbeitsaufträgen erhielten Kinder stets Lob für die geleistete Arbeit (siehe unten). Da ich über die häuslichen Verhältnisse größtenteils informiert war, konnte ich die Leistungen gut einschätzen. Ich freute mich über die falsch ausgefüllten Baum-Steckbriefe des Kindes aus der bildungsfernen Familie genauso wie die ausführlichen und toll gestalteten Corona-Tagebücher der anderen.
Sofern möglich, versuchte ich die Arbeitsergebnisse der Kinder zu würdigen, z.B. mit einer Ausstellung in einem virtuellen Museum, als Video oder indem ich ihnen die Möglichkeit gab, mir ihre Ergebnisse in einer Video-Präsentation vorzustellen.
Zum ersten Tag der Schulöffnung erhielt jeder Schüler und jede Schülerin von mir eine Urkunde für die geleistete Arbeit im Fernunterricht. Diese lag am Schuljahresende ebenfalls dem Zeugnis bei.
Persönlicher Kontakt beim "Fenstern"
Im 2-Wochen-Rhythmus bekamen die Kinder die neuen Arbeitspläne. Ich habe bewusst die Papierform gewählt. Dies erschien mir für eine 2. Klasse ohne digitale Vorerfahrungen die beste Wahl. Das Ausdrucken zuhause kam für mich aufgrund der Chancengleichheit und Lernmittelfreiheit nicht in Frage.
Die Ausgabe der Pläne wurde über die Fensterfront des Klassenzimmers (im Erdgeschoss) organisiert. Beim "Fenstern" - wie wir es nannten - konnte der notwendige Abstand eingehalten werden. Gleichzeitig konnten sich Lehrperson, Eltern und Kinder im persönlichen Kontakt treffen, ein paar Worte wechseln und sich von Angesicht zu Angesicht sehen.
Videokonferenzen
Wir trafen uns als Klasse einmal pro Woche in einem Videokonferenzraum zu gemeinsamen Aktionen - anfangs noch als einfacher Erzählkreis, später zu virtuellen Ausflügen (nähere Informationen siehe Videokonferenzen in der Grundschule). Sich gegenseitig zu sehen und zu hören stand im Vordergrund, genauso wie die Abwechslungs zum Alltag. Die Kinder freuten sich oft schon mehrere Tage im Voraus auf das nächste Treffen.
Als Unterstützungsmöglichkeit und auch als Angebot zur Entlastung der Eltern bot ich an 2 Terminen pro Woche Sprechstunden in Videokonferenzräumen an. Diese konnten zur Klärung von Fragen seitens der Schülerinnen und Schüler, aber auch von Seiten der Eltern genutzt werden. Hin und wieder kam es auch vor, dass Kinder in diesem Rahmen die Möglichkeit nutzen wollten, ein paar persönliche Worte mit der Lehrperson zu wechseln.
Arbeitsaufträge, bei denen die Kinder ein Produkt erschufen (z.B. Präsentation eines Buches oder Tieres), konnten in einem Videokonferenzraum der Lehrperson vorgstellt werden. Als zusätzliche Zuschauer konnte der bzw. die Vortragende zusätzliche Kinder der Klasse einladen.
Umgang mit Schülerleistungen
Die Leistungsbewertung wurde während des Lockdowns ausgesetzt (zumindest in Baden-Württemberg). Dennoch blieb das Thema bei den Schülerinnen und Schülern präsent, wenn auch nicht in Form von Noten: Grundschüler lernen oftmals vorrangig für ihren Lehrer bzw. für ihre Lehrerin und sie möchten dafür von ihm bzw. ihr gelobt werden. Dies war auch der Grund, warum ich den Kindern die Möglichkeit der Abgabe von Aufgaben anbot: Sie sollten so das Gefühl erhalten, zu wissen, wofür sie arbeiten.
Für die Rückgabe bot ich mehrere Möglichkeiten an:
- als Foto per E-Mail: Die Rückmeldung erfolgte dann schriftlich per E-Mail.
- in moodle mit der Abgabefunktion für Aufgaben: Die Rückmeldung erfolgte dann als persönliches Audio-Feedback.
- in Papierform in den Briefkasten der Schule: Den habe ich wöchentlich geleert. Die Rückmeldung sendete ich per E-Mail.
Wie oben bereits erwähnt, erhielten die Kinder nach der Rückgabe stets Lob für die geleistete Arbeit. Kinder die mir regelmäßig ihre Ergebnisse zuschickten, versuchte ich zusätzlich mit einfach umzusetzenden Tipps anzusporenen.
Doch auch Gegenteiliges war zu beobachten: Kinder, die selten oder gar nie ihre Aufgaben abgaben, bei denen der Kontakt zwischenzeitlich abbrach. Familien, in denen sich Tragödien abspielten und wenig Kraft für das Fernlernen blieb. In der Kommunikation mit diesen Familien versuchte ich die Arbeitspläne als "Arbeitsangebote" zu vermitteln, um den Eltern den zusätzlichen Druck zu nehmen, alles schaffen zu müssen.
Erklärvideos
Ziemlich schnell wurde klar, dass der Lockdown länger dauern würde als anfangs vermutet und wir nicht um die Erarbeitung neuer Lerninhalte herumkommen würden. Selbst gedrehte Lernvideos waren für mich eine adäquate Möglichkeit, Kindern neue Dinge beizubringen. Wichtig war für mich dabei der asynchrone Charakter: Die Videos konnten von den Eltern flexibel in den Tagesablauf integriert werden und zum Abspielen reichte ein Smartphone.
Zu Beginn und am Ende jedes Videos begrüßte ich die Kinder vor der Kamera. Die Inhalte vermittelte ich meist über Legevideos. Die eigene Produktion der Videos nahm deutlich mehr Zeit in Anspruch, als wenn ich auf bereits vorhandene Videos zurückgegriffen hätte. Allerdings konnte ich so quasi den täglichen persönlichen Kontakt zu den Kindern halten.
Feedback einholen
Ich fühlte mich teilweise hilflos, saß alleine an meinem Schreibtisch und stellte Pläne mit Aufgaben zusammen, ohne zu wissen, ob das nun zu viel oder zu wenig war. Aus diesem Grund bat ich die Eltern laufend, mir Rückmeldung zu geben, wenn sie Verbesserungsvorschläge hatten. Aufgrund dieser Rückmeldungen stellte ich bspw. die anfänglichen Wochenpläne auf Tagespläne um, was zu einer deutlichen Verbesserung der Arbeitseinteilung zuhause führte.
Die Eltern gaben mir Feedback vor allem per E-Mail. Zu bestimmten Themen erstellte ich jedoch auch Umfragen in moodle (Aktivität: Feedback).
Die Beziehung zu den Eltern verbesserte sich dadurch spürbar. Ich bekam konstruktive Rückmeldungen und gleichzeitig konnten Eltern gezielte Rückmeldung geben. Dadurch entwickelte sich so etwas wie eine Bildungspartnerschaft, von der zu Schulzeiten eher wenig spürbar war.
Die Kleinigkeiten...
Getreu nach dem Motto "Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft", gab es hin und wieder eine kleine Überraschung. Die Idee dazu fand ich meist in den sozialen Medien.
Über Anrufe zum Geburtstag freuten sich die Kinder sehr. Eltern, die Probleme mit dem Versenden von E-Mails oder dem Verstehen der deutschen Sprache hatten, waren dankbar, wenn ich mich bei ihnen meldete und meine Hilfe anbot.
Fazit
Es ist klar, dass dieses "Konzept", das ich in einer 2. Klasse der Grundschule durchgeführt habe, in dieser Form nicht auf alle Klassenstufen und Schularten passt. Auch für einen weiteren Lockdown bzw. Fernunterricht würde es sich nach heutigem Stand nicht 1:1 übertragen lassen. Die oben beschriebenen Maßnahmen stammten aus einer Zeit, in der es nur wenig Regeln gab. Mittlerweile haben die Länder neue Regelungen erlassen und zumindest in Baden-Württemberg widersprechen diese einigen der genannten Punkte.
Dennoch: Das Fokussieren auf die Beziehungsebene zahlte sich aus. Die Beziehung zu den Kindern und zu den Eltern verbesserte sich dadurch über die Zeit des Corona-Lockdowns hinaus (zumindest bei den meisten). Einen Abfall der Motivation, schlechtere Arbeitsergebnisse oder andere negative Effekte konnte ich trotz der Reduzierung der Leistungsorientierung nicht beobachten - im Gegenteil.
- ↑ vgl. Mittelbach, T.: Eine Starke Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler:innen aufbauen, in: Kantereit, T. (Hrsg.): Hybrid-Unterricht 101 - Ein Leitfaden zum Blended Learning für angehende Lehrer:innen, 2020.
- ↑ vgl. https://web.fhnw.ch/plattformen/hattie-wiki/begriffe/Lehrer-Sch%C3%BCler-Beziehung (abgerufen am 06.10.2020).
- ↑ vgl. https://web.fhnw.ch/plattformen/hattie-wiki/begriffe/Interpretationshilfe_zur_Effektst%C3%A4rke (abgerufen am 06.10.2020).
- ↑ aus. Dr. Schulz, L.: Inklusion und Fernunterricht, in: Kantereit, T. (Hrsg.): Hybrid-Unterricht 101 - Ein Leitfaden zum Blended Learning für angehende Lehrer:innen, 2020.